Mellis Geschichte

 

 

Melly 

und das Geheimnis von Unterland

 

von

Flora von Bistram

 

 

1 Im Zwergenland

Dunkel war die Nacht und der volle Mond schickte seinen milden Schimmer über die stille Erde. Melly konnte nicht einschlafen. Die Tränen stiegen in die Augen, doch sie schluckte tapfer.

„Nein, ich will mich doch von denen nicht mehr ärgern lassen!“

Dieser Tag war wieder einmal sehr schlimm für sie gewesen. Einige der Kinder waren, wie so oft schon, johlend hinter ihr her gelaufen und Arno hatte schon vor der Schule seine Spottverse gesungen:

 

Kleines Mädchen Zwergenkind,

bringt es in den Wald geschwind,

wo die anderen Zwerge sind!

Kleines Mädchen, Zwergenkind!“

 

So schnell es die kleinen Beine und die schwere Tasche erlaubten, lief sie davon, immer begleitet von dem Johlen und Singsang, in den nun auch andere Kinder eingefallen waren. Zuerst hinter, dann neben sich hörte sie plötzlich einen laufenden Schritt, was sie zusammenzucken ließ, das Herz trommelte wie wild, doch da hörte sie schon Paul rufen: “Renn doch nicht so, ich bin es, dir passiert nichts!“

Heftig atmend standen sich die beiden ungleichen Kinder gegenüber. Paul, groß und muskulös für seine 8 Jahre und vor ihm die gleichaltrige, sehr zierliche Melly, gerade mal 102 cm groß.

„Ich bin doch dein Beschützer, warum hast du nicht gewartet?“ Melly schluckte die aufsteigenden Tränen runter und schniefte kurz.

„Ich habe dich nirgends gesehen und Arno von der vierten Klasse hatte schon auf meiner Strickjacke rumgetrampelt, mich geschubst und sofort losgesungen.“ Nun kullerte doch eine Träne über ihre schmalen Wangen, die Paul ein wenig unbeholfen, aber sehr liebevoll abwischte.

„Warum sind die denn so gemein, ich kann doch nichts dafür, dass ich so klein bin und langsamer wachse als ihr“, schluchzte die Kleine noch einmal weh auf.

„Sei nicht traurig, meine Mama sagt immer, dass der liebe Gott die Kinder so gemacht hat, wie es ihm gefällt. Also gefällst du ihm so….und mir und meinen Eltern auch, außerdem wächst du ja noch“, setzte er noch schnell hinzu.

Paul ergriff Mellys Hand und gemeinsam gingen die Nachbarskinder, die seit Jahren neben einander lebten, nach Hause.

Nach Hause, ja das war auch ein Begriff, der das Mädchen manchmal beschäftigte, denn sie lebte bei ihrer Oma. Seine Mutter hatte das Kind vor sieben Jahren hierher gebracht und sich seitdem nicht mehr sehen lassen. Melly konnte sich an die Mama nicht erinnern, sie war damals ja ein Baby gewesen, nur durch Bilder vergaß sie sie nicht ganz. Oma sagte immer zu ihr: “Die Mama muss viel arbeiten und Amerika ist so weit weg.“

Natürlich schrieb diese und schickte viele Päckchen, ab und zu konnte sie auch am Telefon mit ihr sprechen, doch das war ja eine fremde Frau, die da sprach, sie kannte sie nicht wirklich. Ja sicher arbeiteten viele Mütter, Pauls Mama arbeitete auch, war aber immer zu Hause, wenn Pauls Schule aus war und auch Oma arbeitete, doch das machte sie an ihrem PC zu Hause. Wie gerne hätte sie mal die Mama gesehen, nicht nur das Bild von ihr. Einen Papa hatte sie wohl nie gehabt, denn wenn sie die Oma fragte, strich die ihr immer nur über den Kopf und seufzte: “Ach Kind, ich weiß es auch nicht.“

Lieb war die Oma und viele dachten, dass das ihre Mama war und das war sie ja auch für sie. Sie kochte und backte so leckere Sachen, und las ihr Geschichten vor, fuhr mit ihr in den Zoo, an das Meer, baute die schönsten Sandburgen und dachte sich die herrlichsten Spiele aus.

Sie hatte ihr auch erklärt, warum sie so viel kleiner war, als alle Kinder im Kindergarten und nun in der Schule. Wachstumsverzögerung war ein komisches Wort. Natürlich wusste sie schon, dass es große und kleine, hell - und dunkelhäutige Menschen gab, Menschen mit Brille oder Hörgeräten, aber war es nicht klar, dass sie einfach nur normal groß sein wollte, wie die Kinder aus ihrer Klasse? Meistens störte es sie nicht, denn mit den meisten Kindern war sie schon seit dem Kindergarten befreundet, aber wenn „die bösen Vier“, wie Paul sie nannte, dann über sie lachten und spotteten, das war wie ein ganz, ganz doller Schmerz. Wie gut es doch war, dass Paul nebenan wohnte, der sie vor bösen Späßen immer beschützte und auch als Spielkamerad so viele gute Ideen hatte.

So lag sie jetzt hier in ihrem kuscheligen Bett und erinnerte sich an den Tag. Oma hatte ihr noch eine Geschichte von den kleinen Elfen erzählt, die war sehr schön gewesen. Sie sah den Mond und die kleinen Sterne, ab und zu huschte eine kleine Schäfchenwolke an ihrem Fenster vorbei.

Da, was war das? Eine kleine Gestalt huschte durch das Kinderzimmer. Melly lag ganz still in ihrem Bett, die Augen weit offen; war das jetzt die Wirklichkeit oder träumte sie? Ja, sie konnte es genau erkennen. Ein kleiner Wichtel mit einem sehr langen, silbernen Bart sprang mit einem Satz auf die Bettdecke. Eine lustig wippende, knallrote Zipfelmütze saß auf seinem Kopf und er trug um die Schultern einen bunten Umhang.

„ Komm mit mir“, wisperte er, „du sollst die Wichtel tanzen sehen. Einmal in hundert Jahren treffen sich alle Wichtel des Waldes, der Luft, des Wassers und der Berge und feiern ein wunderschönes Fest. Und nur einmal in diesen hundert Jahren darf ein ganz besonderes Menschenkind dabei sein. Du bist dieses Mal auserwählt, mit mir zu kommen und an der Feier teilnehmen.“

„Aber ich kenne dich doch gar nicht, wer bist du denn? Ich darf mit keinem fremden Menschen mitgehen, sagt Oma immer.“

„Liebe kleine Melly, ich bin kein Mensch, sondern ein Hüter und Beschützer der Kinder, die anders als andere Kinder sind. Ich bin Adolar, Bote des Königs Boldowit von Unterland.“

„Von welchem Unterland? Das kenne ich gar nicht, wo soll das denn sein?“

„Das Unterland liegt weit unten im Herzen der Erde. Wir kümmern uns um die Schätze, die in den Steinen der Felsen verborgen liegen, passen auf, dass die Menschen nicht alle Wunder zerstören, aber wir helfen auch denen aus Oberland, den Wichtelbrüdern und Schwestern, den Trollen, Elfen und allen Wesen, die die Wälder und Wiesen, das Wasser und die Lüfte beleben und natürlich Menschen, die unsere Hilfe benötigen.“

Mit ganz erstauntem Blick nickte das Mädchen, kletterte ein wenig neugierig aus ihrem Bett und folgte dem Zwerg, der sogar noch ein ganzes Stück kleiner war als sie und fröhlich pfeifend vor ihr her hüpfte. Sie wunderte sich dann aber doch sehr, denn ganz von alleine gingen die Türen auf, wenn sie nur in deren Nähe kamen, bis sie den kleinen Stab in Adolars Hand bemerkte, der an der Spitze eine winzige Kugel hatte, die immer dann, wenn er nur ein wenig mit der Hand wedelte, in allen Regenbogenfarben schillerte und schon öffneten sich Tür und Tor. Wie der Wind erreichten sie über die kleine Straße den Feldweg und den Wald. Hell leuchtete der Mond und zeigte einen Weg, den Melly vorher noch nie gesehen hatte. Sonst kam ihr der Wald abends immer so unheimlich vor, aber heute erschien es ihr, als ob tausende Lichter um sie herum tanzten.

Der Wichtel bemerkte ihr Erstaunen, lächelte und deutete auf die kleinen Lichtpunkte.

„Schau, die vielen Glühwürmchen haben ihre Laternen für uns angezündet, damit wir den Weg erkennen können.”

Und tatsächlich, beim genauen Hinschauen erkannte Melly, dass tausende der kleinen Käfer um sie herum und vor ihnen her flogen. Überall in den Büschen erscholl nun ein feines Wispern und Kichern. Melly konnte aber nicht sehen, von wem das kam.

„Sag Adolar, wo bringst du mich hin und wer ist da hinter den Büschen und den Bäumen versteckt?“

„Das sind meine Freunde, Lebewesen des Waldes, die sich freuen, dich zu sehen. Und alle wollen mit dir tanzen, denn wie bei jedem Fest sind sie ganz gespannt, welches kleine Menschenkind uns besuchen darf.“

Und beim genauen Hinschauen konnte Melly nun viele Tiere entdecken und es flogen ja sogar kleine Elfen um sie herum. Ach, waren die schön in ihren hellen, hauchzarten Gewändern und den mit Goldstaub bedeckten Flügeln. Ganz plötzlich hielt Adolar vor einem großen Berg an, der völlig umwuchert war von Büschen und kleinen Bäumen. Er erhob seinen kleinen Stab und berührte den Felsen. Lautlos schob sich das Gestrüpp auseinander und gab den Blick auf eine schmale Felsenspalte frei.

„Nun komm“, winkte der Zwerg, „hier müssen wir durch.“

Melly schüttelte energisch den Kopf. „Schau doch nur mal genau, wie klein der Spalt ist, da passt du durch, aber ich niemals. Ich bin zwar noch sehr klein, aber so klein doch nicht mehr.“

„Du ungläubiges kleines Mädchen“, lächelte der Wichtel, hob sein Stöckchen, berührte Melly damit und … wutsch…ehe sie sich versah, war sie genauso klein wie ihr neuer Freund.

Da musste Melly aber lachen. Wie anders sah die Welt doch jetzt aus. Die kleinen Blumen, die eben noch zu ihren Füßen wuchsen, wirkten nun wie Bäume neben ihr.

„Hilfe“, rief sie entsetzt, als ein großes braunes Ungeheuer auf sie zu kroch.

Der Zwerg lachte wieder. „Schau genau hin“, forderte er sie auf. Da erkannte Melly, dass es nur ein dicker Maikäfer war, der gemütlich an einem Blatt geknabbert hatte, dass ihm aber bei ihrem Schrei aus seinem Mund gefallen war. Und auch sie musste nun lachen.

„Entschuldigen sie, Herr Maikäfer, dass ich sie so erschreckt habe.“ Sie machte eine tiefe Verbeugung und lief dann schnell hinter ihrem kleinen Begleiter her.

„Nun komm, wir müssen weitergehen, alle warten auf uns.“

Der Wichtel zog sie in die schmale Felsspalte hinein. Was entdeckte Melly da für eine traumhafte Pracht. Durch hell erleuchtete Gänge führte Adolar das staunend um sich blickende Mädchen. Große Gewölbe öffneten sich vor ihnen, edle, mit den Menschen unbekannten Zeichen bemalte Türen und reichgeschnitzte, dicke Tore öffneten sich von selbst, Gemälde von Fabelwesen bedeckten die Wände und wurden von den Edelsteinen bestrahlt.

An den Wänden hingen glitzernde Gold - und Silbergebinde. Große, weiße Kristalle leuchteten mit roten, grünen und blauen Edelsteinen um die Wette.

„Wie schön das hier ist“, flüsterte die Kleine völlig überwältigt. Doch was war das? Fröhliche Musik erklang, zuerst noch leise in der Ferne, doch sie kamen schnell voran und konnten nun schon helle Stimmen erkennen, die lustige Lieder sangen.

„Wir feiern heute eine Wichtelhochzeit“, erklärte der Zwerg, „komm vorwärts und bleib nicht stehen, wir wollen doch von Anfang an dabei sein.“

Als sie um die Ecke bogen, schauten sie in einen großen Saal in dem viele, viele Lichter brannten. An Kronleuchtern hingen fein geschliffene Rubine, Smaragde und Saphire, die sich drehten und dadurch ein noch helleres Licht schenkten, das den ganzen Raum glitzernd und funkelnd erhellte. Die Wände und die Decken waren wie die Gänge mit Gold - und Silbergirlanden geschmückt. Alles leuchtete und in großen, reichverzierten Kristallspiegeln, die zusätzlich an den Wänden hingen, verstärkte sich der Schein. Der Fußboden war aus Glas, mitten im Saal stand ein langer, mit wunderschönen Blumen geschmückter Tisch, viele kleine Stühle mit Schnitzereien und Namensgravierungen standen drum herum. Jeder der Geladenen bekam hier seinen eigenen, beschrifteten Platz.

Da erscholl eine silberhelle Glocke, eine Türe ging auf und die ganze Wichtelgesellschaft kam herein. Wie wunderschön sie alle aussahen, herrliche Kleider und Umhänge trugen sie. Zuerst trat das Brautpaar ein, Welch ein Anblick, die kleine Wichtelbraut trug ein Kleid, das ganz aus silberner Seide geschneidert und über und über mit Perlen bestickt war. In den Haaren glitzernden Diamanten, die den Schleier festhielten, der zarter als ein Spinnengewebe aussah. Da fiel Melly ein, dass sie nur mit einem bunten Nachthemd bekleidet war. Sie zupfte ihren Begleiter vorsichtig an seinem glänzenden Umhang.

„Ach Adolar, sieh mich an, so kann ich doch nicht mit feiern!“

„Ach je, das habe ich ja ganz vergessen, aber das ist für uns kein Problem“, antwortete er ihr, berührte sie mit dem Stab, klatschte dann dreimal in die Hände.

Nun staunte Melly, als sie an sich herunter sah und sich dann vor einem der großen Spiegel betrachtete, denn ein wunderschönes, langes Zwergengewand bekleidete sie.

„Wie ein Prinzessinenkleid...“ hauchte sie überwältigt und berührte vorsichtig den schönen Stoff, der in ihrer Lieblingsfarbe hellblau leuchtete. Der bis fast zum Boden gehende, weite Rock war bestickt mit tausend kleinen bunten Stoffblüten und auf das Oberteil waren winzige Perlen genäht. Das Schönste war der blau-silbern schimmernde Umhang, der bis zur Taille reichte, an dessen Saum sich hunderte kleiner Glöckchen befanden, die bei jeder Bewegung ein leises, sirrendes Lied läuteten.

„Oh danke“, hauchte sie nur und strich immer wieder über ihr Kleid, denn so etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen. Alle Zwerge standen plötzlich um sie herum, zwei von ihnen fassten sie an den Händen und begleiteten sie zum Tisch.

„Nun wollen wir das Menschenmädchen willkommen heißen und dann zusammen mit dem Festmahl beginnen“, rief der Zwergenkönig, der auf dem schönsten Stuhl am Ende des Tisches saß.

Alle Zwerge erhoben sich, schauten zu Melly, klatschten in die Hände, verneigten sich vor ihr, setzten sich dann auf ihre Plätze und begannen zu essen.

„Ach du meine Güte“, flüsterte Melly, „was ist das denn Gutes?“ Sie traute ihren Augen nicht, als sie sah, was da noch alles hereingetragen wurde. So viele verschiedene Obstsorten hatte sie noch nicht einmal auf dem Markt gesehen, zu dem sie die Oma immer begleitete, Gemüse, Salate, Süßspeisen und Kuchen, ach sie konnte gar nicht alles probieren, es war viel zu viel.

Nach dem Essen erscholl wunderbare Musik. Die Zwerge zogen Melly mit sich und fingen an, zu tanzen und zu singen. Jeder Wichtel wollte nun mit ihr tanzen, auch die Lieder sang sie fröhlich mit und wunderte sich gar nicht mehr, woher sie die alle kannte.

„Ich schwebe“, wunderte sich das Mädchen, denn ihre Füße berührten kaum noch den Boden.

Dann flogen die Elfen herein und führten einen Elfenreigen vor, Trolle und Kobolde zeigten kleine Zauber – und Turnkunststücke, wie Melly sie auch im Zirkus noch nie gesehen hatte. Eine Wasserelfe sang ein Lied, das sich wie das Plätschern des kleinen Baches im Sommer anhörte, wenn die Grillen einstimmten und die Bienen und Hummeln summten. Zwei ihrer Freundinnen spielten dazu auf silbernen Harfen.

Immer fröhlicher wurden die Lieder, immer schneller drehten sich die Tänzer und Tänzerinnen. Melly wurde schon ganz schwindelig. Da, ein Gong erklang, die Musik verstummte und alle setzten sich, schauten auf Melly. Adolar nahm sie an die Hand und führte sie zum König.

„Erdenkind Melly, dieses ist nicht nur eine Hochzeit im Unterland, sondern es ist auch ganz besonders dein Tag. Wir wissen, welches dein Kummer ist, dass einige Menschenkinder nicht begreifen, dass gerade du ein ganz besonderer Mensch, ein Geschenk bist, den du bist kleiner als alle Anderen und wirst nie so groß werden, wie die meisten Menschen. Wir, das Zwergenvolk und alle Wald – Luft - und Wassergeistvölker wollen dich von nun an beschützen, denn es wartet eine große Aufgabe auf dich. Diese Aufgabe wirst du dann erfahren, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist, dann wird dich Adolar informieren. Er ist von nun an dein besonderer Begleiter und Hüter, der deinen Freund Paul unterstützen wird, denn Paul wird immer dein Helfer sein, er hat eine gute Seele und ein offenes Auge für das Unsichtbare.“

Das Mädchen wagte nicht, sich zu rühren, zu feierlich war dieser Moment und sie verspürte so viel Kraft in sich, wie noch nie zuvor.

„Deine kleine goldene Kette mit dem Kleeblatt lege ich dir jetzt wieder um den Hals. Du hast nicht bemerkt, dass wir sie dir vorhin wegnahmen. Wir haben sie schon zu deinem ersten Geburtstag mit einem Zauber belegt, so kannst du immer einen von uns, aus den für andere Menschen unsichtbaren Ländern rufen, wenn du in Bedrängnis bist, du musst nur ein wenig an ihr reiben. Du allein weißt um ihr Geheimnis und kannst dich dann sicher fühlen, wenn es bedrohlich für dich wird. Merke dir aber Eins, du musst immer die Gefahr direkt ansehen, schau ihr in die Augen, nie vor ihr davon laufen, reibe das Kleeblatt, denk an einen von uns, sag leise die Beschwörungsformel, die Adolar dir nennen wird und du bekommst Hilfe.“

Mit diesen Worten griff Baldowit zu der goldenen Dose, die ein Zwergenmädchen ihm reichte, öffnete sie und entnahm ihr die zarte Kette. Er beugte sich vor und legte sie der überraschten Melly wieder um den Hals.

„Oh, ich danke euch allen so sehr, das ist ein so wunderbarer Tag, den ich nie vergessen werde.“

Nun kamen jeder Zwerg, jede Elfe, jeder kleine Geist zu ihr, umarmte sie, flüsterte ihr seinen Namen ins Ohr, strich ihr über die Haare und so war der Name in ihr, sie konnte ihn nie mehr vergessen, das fühlte sie ganz tief in ihrem Herzen.

Der König klatschte in die Hände, als Alle an dem Kind vorbei gegangen waren und die Musik spielte wieder. Man reichte sich die Hände, kam zu Dreier - und Vierergruppen zusammen und so wirbelten die Wichtel mit Melly durch den Saal, dass ihr ganz schwindelig wurde, die Musik wurde lauter und schneller und immer schneller drehten sich die Tänzer, bis Melly das Gefühl hatte, zu fliegen und tatsächlich, die Elfen hielten sie an den Händen und trugen sie fort aus Unterland. Sie hielt die Augen fest geschlossen, genoss dieses leichte Gefühl, denn sie war plötzlich unendlich müde und sehr, sehr glücklich.

Doch was war das? Als sie die Augen wieder öffnete, lag sie auf dem kuscheligen Teppich vor ihrem Bett. Verwundert legte sie sich hinein und grübelte: wo waren nur all die Zwerge, die Trolle, die Elfen und all die anderen geblieben, warum hatten sie denn die vielen schönen Lichter gelöscht? Wohin waren ihre neuen Freunde entschwunden? Nun merkte sie, dass sie ihre richtige Größe hatte. Was war passiert, hatte sie das schöne Erlebnis nur geträumt?

Sie schaute an sich runter und stellte traurig fest, dass das wunderschöne Kleid auch nicht mehr da war, sondern sie wieder ihr buntes Nachthemd an hatte. Hatte sie das Alles nur geträumt? Schon zuckte ihre Hand zum Hals, oh ja, sie war da, die kleine Kette hing noch dort und das kleine Kleeblatt gab bei der Berührung einen zarten, singenden Ton von sich. Nein, sie hatte nicht geträumt, sie hatte wirklich alles erlebt.

Zufrieden lächelnd legte sie sich hin und schloss müde die Augen, so sah sie nicht mehr, dass Adolar sich noch einmal an das Bett setzte, die verschwitzten Haare aus ihrer Stirn strich und ihr in das Ohr wisperte:

„Schlaf gut, kleine Melly, noch weißt du nicht, wie wichtig du für unser Volk bist, nur du kannst uns vor dem Untergang bewahren, du wirst unsere große Hilfe sein. “

Im Schlaf nickte Melly und lächelte.

 

 

2. Der Ausflug

 

„Omilein, Omilein, ich konnte die Zwerge tanzen sehen!“

Ganz aufgeregt sprudelten die Ereignisse der Nacht aus Melly heraus, als ihre Großmutter sie geweckt hatte, um mit ihr zusammen zu frühstücken. Die Sonne schien und sie wollten das Wochenende für einen kleinen Ausflug zu dem nahen See nutzen, Picknick machen und Beeren suchen.

„Ja sicher, mein Schatz, in den Träumen haben wir immer unsere ganze Märchenwelt zur Verfügung.“ lächelte Jutta Wichmann ihrer Enkelin zu.

„Aber nein, ich war wirklich da, sie haben gefeiert und ich hatte ein wunderschönes Kleid an.“

Aufmerksam hörte sich nun die Oma Mellys Geschichte an, nickte ab und zu, fragte gelegentlich nach. Hatte sie doch in ihrer Kindheit ähnliche Erlebnisse gehabt, die ihr aber niemand glauben wollte.

„Bitte, bitte, Oma, können wir Paul mitnehmen? Ich möchte ihm so gerne Alles erzählen und vielleicht finden wir ja die Stelle am Felsen und wenn ich dagegen klopfe…“ Melly konnte gar nicht so schnell sprechen, wie die Gedanken durch ihren Kopf purzelten, während die ältere Frau das Frühstück wegräumte, um dann den Picknickkorb zu packen.

„Natürlich nehmen wir deinen Freund mit, das hatten wir doch ohnehin vor. Geh schon rüber, ich packe die Sachen in das Auto, dann können wir bald los fahren.“

„Aber wir können doch auch laufen, das machen wir doch sonst auch.“

„So müssen wir aber unsere ganzen Picknicksachen nicht schleppen, wir wollen doch den Tag dort verbringen und ich wette, ihr werdet froh sein, wenn wir nach unserem Ausflug zurück fahren können.“ Jutta wollte das Kind nicht beunruhigen, ihre immer wiederkehrenden Rückenschmerzen waren diesmal einfach zu stark, um zu laufen.

Melly stürmte aus dem Haus. „Paul, Paul, wir fahren, wir fahren, komm schnell!“ Laut rufend erreichte sie das Nachbarhaus und bevor sie klingeln konnte, wurde dort schon die Tür geöffnet und Paul kam gemächlichen Schrittes heraus. Er strahlte über das ganze fröhliche Gesicht, als Melly ihn gleich an der Hand packte und aufgeregt losplapperte: „Du wirst nicht glauben, was ich erlebt habe, ich habe so tolle Sachen gesehen, Elfen und Zwerge und getanzt habe ich und…und…“

„Hallo Melly, willst du mir nicht auch Guten Morgen sagen?“

Mit heller Stimme unterbrach Ellen Köhler das muntere Kind.

„Ach Tante Ellen! Guten Morgen, guten Morgen, ich muss Paul so viel erzählen, wir werden zusammen so viel erleben, ich bin schon so gespannt, was er sagen wird.“

Mit diesen Worten zog sie, noch kurz winkend, den auch zurück winkenden Paul mit sich, um ihm weiter von dem aufregenden Erlebnis der letzten Nacht erzählen zu können.

Ellen schaute den beiden Kindern nach, sah sie im Auto ihrer Nachbarin Jutta verschwinden und hörte bis zum Schließen der Autotür immer noch das zwitschernde, helle Stimmchen des kleinen Mädchens, winkte auch Jutta noch kurz zu, bevor sie wieder in das Haus ging um seufzend einige herumliegende Kleidungsstücke aufzusammeln, die Paul mal wieder im Eifer der Ausflugvorbereitungen herum geworfen hatte. Leise ging sie dann in die Küche, um ihren Mann, der nach seinem Spätdienst noch schlief, nicht aufzuwecken.

 

 

Wie die Geschichte weitergeht, erfahrt ihr in dem Buch, das im kommenden Jahr in Neuauflage erscheinen wird

Erstes Erscheinen 1976 im Verlag Lax Hildesheim