Engelchens Reise

 

 Da saß es nun, das kleine Engelmädchen und war so gar nicht zufrieden mit seiner kuscheligen Wolke. Es zupfte hier, es zupfte da, legte sich auf den Rücken, versuchte es auf dem Bauch. Doch nein, es konnte einfach nicht schlafen.

Also stand es auf und flog zu Petrus an die Himmelspforte.

„Na du kleines Engelchen, was fliegst du denn noch hier herum, du musst doch schon lange schlafen.“

„Ach Petrus, ich kann aber nicht schlafen, ich fühle mich so allein.“

Petrus lächelte gutmütig.

„Na komm her auf meinen Schoß, wir schauen ein wenig durch mein Fernrohr, was so in der Welt passiert.“

Er schnappte sich die Kleine und schob das riesige Himmelsfernrohr zurecht.

Da staunte unser Engelkind aber, was es alles entdecken konnte. Wälder und Wiesen, Dörfer und Städte, sie kamen so nah heran.

Es schaute hinunter in die Welt und sah in die Fenster der Häuser. Da saß eine alte Frau und strickte. In einem anderen Haus konnte es einen Mann erkennen, der gerade liebevoll seinen Hund kraulte.

Ach und dort, was war das denn? Ene hübsche Frau schmuste mit einem Baby, küsste es, bevor sie es ins Bettchen legte.

Da wurde die kleine Engelin traurig, denn sie spürte plötzlich im Herzchen so eine Sehnsucht, auch so schön gewiegt und eingekuschelt zu werden, dass es richtig schmerzte.

„Petrus, was sind denn das für Frauen, die die Babys ins Bett legen?“

„Dummerchen, das sind die Mamis,“ lachte Petrus.

„Wo ist denn meine Mami?“ wollte Engelchen nun aber wissen.

„Ach ihr kleinen Engel, ihr werdet doch aus der Himmelsliebe geboren, ihr braucht keine Mami.“

„Aber wenn ich auf die Erde ginge, dann bekäme ich vielleicht eine Mami für kleine Engel?“

„Dann würdest du als erstes deine kleinen Flügel verlieren, denn Engel dürfen nur dann zur Erde, wenn sie dafür von höchster Stelle dazu berufen wurden. Nun aber ab, kuschel dich in deine Wolke und schlaf, damit du schnell ein großer Schutzengel werden kannst.“

Da lag nun das Engelmädchen und schaute immer wieder auf die Erde. Ach wie gerne hätte es auch so eine Mami.

Es wälzte sich hin und her, beugte sich weit über den Rand der Wolke und ganz plötzlich kippte es von seinem kleinen Platz. Ganz aufgeregt flatterte es mit seinen kleinen Flügeln und tatsächlich, sie trugen und ließen es ganz sanft gleiten.

„Nun aber schnell zurück auf meine Wolke“, dachte die Kleine, doch im gleichen Moment schaute sie zur Erde und beschloss, einfach mal eine Mami zu suchen.

Hui, der milde Wind trug Engelchen ganz leicht durch die Wolkenbetten, in denen ganz friedlich die anderen kleinen Engelchen schliefen und ehe es das richtig wahrgenommen hatte, saß es schon mit seinem nackten Popo auf einem moosbedeckten Waldboden. Uiii, das prickte etwas, war nicht so weich, wie die Kuschelwolken.

Mit einem leichten Flattern ihrer Flügelchen wollte die Kleine nun vorsichtig weiterfliegen, doch oh weh, was war das. Sie tastete und tastete...sie waren weg - die Flügelchen waren nicht mehr da. Erschrocken stand Engelchen auf und hüpfte hoch. Doch nein, es stand wieder auf seinen kleinen dicken Beinen. Noch ein Versuch, nun mit ausgebreiteten Armen...auch nichts. Vorsichtig machte es ein paar kleine Schritte und hurrah, das ging. Der Waldboden war doch ziemlich weich.

Schritt für Schritt ging es nun weiter. Zuerst tasteten die kleinen Zehen vorsichtig, denn noch war es dunkel, doch zwischen den Wipfeln der Bäume erschien plötzlich der helle Mond und so sah das Engelkind die Bäume rundherum, Büsche und auch Tiere. Verwundert blieb es stehen, als eine Hasenmutter mit ihren vier Häschen auf es zuhoppelte.

„Hallo, wer bist du denn?“ fragte die Hasenmama.

„Ich bin doch ein Engelkind und suche eine Mami. Möchtest du meine Mami sein?“

Die Häsin schüttelte den Kopf. „Oh nein, ich kann nicht deine Mami sein. Ich habe schon vier Kinder. Und in unseren kleinen Bau tief in der Erde passt du nicht hinein.“

Die Hasen hoppelten weiter und Engelkind ging auch los.

Nur wenig später landete eine Eule neben ihm. Sie drehte den Kopf hin und her, beäugte den kleinen Matz und krächzte erstaunt:

„Nanu, nanu, wer bist denn duhu? Was machst du so allein im Wald zu dieser Zeit?“

„Ich bin doch ein Engelkind und suche eine Mami. Möchtest du meine Mami sein?“

„Aber, aber, ich kann nicht deine Mami sein, ich bin ein Vogel und fliege weit über den Wald, von Baum zu Baum und setze mich nur auf die Erde, um mal einen Leckerbissen zu schnappen. Aber sei nicht traurig, du findest schon noch deine Mami.“

Ganz leicht strich die Eule noch mit einer Flügelspitze über das Gesicht des kleinen Engelchens und erhob sich mit starkem Flügelschlag in die Luft.

Engelkind ging weiter und weiter. Da entdeckte es ein Reh, das mit zwei kleinen Bambis friedlich auf der Lichtung äste. Immer wieder hob die Rehmutter ihren Kopf, äugte nach allen Seiten, während die Kitze sich an sie drängten, bereit, bei Gefahr sofort loszulaufen. Sie spürte gleich, dass von der Kleinen, die da anmarschiert kam, keine Gefahr drohte.

Die Ricke stubste den kleinen Engel sanft mit ihrem weich Maul an.

„Was machst du denn um diese Zeit hier? Kleine Mädchen gehören doch lange ins Bett. Geh schnell nach Hause, deine Mami wird dich schon suchen.“

„Aber ich suche doch erst eine Mami, möchtest du nicht meine Mami sein?“

„Nein, meine Kleine, ich kann nicht deine Mami sein, denn du könntest nicht mit uns auf schnellen Beinen fliehen, wenn Gefahr droht.“

Nun rollten aber richtig dicke Glitzertränen aus den großen Engelaugen.

„Niemand will meine Mami sein und zurück kann ich auch nicht, weil ich meine Flügelchen verloren habe. Was mache ich denn nur?“

Die Rehmutter leckte ganz sachte die kullernden Tränen weg und sagte:

„Komm, wir bringen dich bis zum Waldrand, da ist ein kleines Dorf, vielleicht hast du dort mehr Glück.“

Und so marschierte Engelchen neben dem Reh und seinen Kitzen auf den Waldrand zu.

„Wir müssen uns jetzt verabschieden, denn die Nacht geht zu Ende und da wird es für uns hier zu gefährlich. Viel Glück, kleiner Engel.“ Mit diesen Worten drehte sich die Ricke um und wie ein Windhauch war sie mit ihren Kindern schon zwischen den Büschen und Bäumen verschwunden.

Engelkind war müde. Langsam ging es auf die Häuser zu. Da, in dem am Rande des Feldes brannte an der Haustür ein Licht. Es ging darauf zu und als es das Haus erreichte, wusste es nicht, wie es hinein gelangen sollte oder wie es sich bemerkbar machen könnte. So ging Engelchen um das Haus herum und fand einen Hühnerstall, in dem etwas Stroh lag. Ohne auf das Gezeter der aufgescheuchten Hühner zu hören, kroch es durch die kleine Luke, rollte es sich zusammen und schlief sofort ein, denn das war ein ganz anstrengender, ungewohnter Marsch gewesen.

Frau Sonnemann, die in dem kleinen Haus wohnte, war von dem wilden Gegacker aufgewacht und weckte ihren Mann, den Herrn Sonnemann, der sich verschlafen reckte und streckte.

„Wach auf, schnell schnell, hör doch nur das Theater an. Komm, lass uns nachsehen, ob wieder der Fuchs in den Hühnerstall gekrochen ist.“

Beide liefen zum Stall, doch was war das? Sie trauten ihren Augen nicht. Lag doch da ein winziges Mädchen mitten im Stall auf dem Stroh.

„Oh sieh nur, unser Wunsch wurde erfüllt. So lange haben wir unsere Wünsche in den Himmel geschickt, nun schickte der Himmel uns dieses kleine Mädchen.“

Die junge Frau ergriff das kleine Engelkind und hob es auf ihre Arme, um es schnell in das warme, weite Nachthemd mit einzukuscheln.

Müde, aber strahlend öffneten sich zwei himmelblaue Augen und eine zarte Stimme fragte:

„Willst du meine Mami sein?“

„Aber ja“, rief sie, „ja, natürlich möchte ich deine Mami sein. Ich habe doch so lange schon auf dich gewartet. Du bist ab jetzt unser Engelkind und Angela will ich dich nennen.“

Herr Sonnemann kratzte sich an seinem Kopf und murmelte immer wieder:

„So ein Wunder, so ein Geschenk. Ja und ich will dein Papi sein.“

Doch das hörte das kleine Schätzchen nicht mehr. Es schlief selig und süß, geborgen an dem Herzen seiner Mami.

Und am nächsten Morgen waren alle Himmelserinnerungen und ihre Suche nach der Mami wie weggeblasen. Die kleine Angela war zu Hause und erinnerte sich an vorher nicht mehr. 

Als Angela größer war und ihre Eltern fragte, wie sie denn geboren wurde, sagten sie ihm immer:

„Du warst ein Engel auf einer Wolke, hast uns gesucht und gefunden.“ und erzählten ihr dann diese Geschichte.

 

Floravonbistram

Für Julia 1975

 

 

 

...und manchmal, wenn man ganz aufmerksam durch den Wald geht, kann es sein, dass im Gras ein verlorenes Engelsflügelchen schimmert. Dann heb es auf und verwahre es sehr sorgfältig, denn vielleicht kannst du es eines Tages, wenn du sehr alt bist, deiner Seele bei seiner Heimreise mitgeben und so findet diese den Himmel leichter.

 

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